Wolfram von Eschenbach - Ritter und Humanist

Dichter des Mittelalters

Wolfram von Eschenbach gilt als herausragender deutscher Dichter des Mittelalters. Vor allem sein alles überstrahlender Epos „Parzival" macht ihn bis auf den heutigen Tag berühmt, gleichzeitig treten aber im Glanz des Grals viele seiner Aussagen und Anliegen in den Hintergrund.
Wolfram Lebens- bzw. Schaffenszeit wird mit ca. 1170 bis 1220 angegeben. Dies erschließt sich aus seinem Werk, den Spuren, Verflechtungen und Selbstaussagen, die der Dichter darin preisgibt. Denn über Wolfram von Eschenbach gibt es außerhalb seiner Dichtung kein Dokument. Wie seine Kollegen Hartmann von der Aue, Gottfried von Straßburg und der unbekannte Dichter des Nibelungenliedes, wird Wolfram in keiner Urkunde erwähnt. Immerhin hat der Nürnberger Patrizier Johann Wilhelm Kress von Kressenstein in seinem Reisenotizbuch von 1608 Wolframs Grabinschrift überliefert. Die fand er im Frauenmünster zu Ober-Eschenbach, dem heutigen Wolframs-Eschenbach:
„Hie ligt der streng Ritter her Wolffram zu Eschenbach ein Meister Singer".
Allerdings ist sich die neuere Forschung sicher, daß es sich hier lediglich um ein später installiertes Xenotaph (Gastgrab) handelte, da man im Mittelalter keinem fahrenden Sänger und Angehörigen des Dienstadels ein Hochgrab in einem Münster stiftete.

Literatur brauchte damals wie heute Freunde und Gönner und Wolfram hat seine „Sponsoren" in seinen Werken verewigt. Daher kennen wir die Namen der Mäzene des armen Poetenritters aus Mittelfranken: Landgraf Hermann von Thüringen (1155-1217), die Grafen von Wertheim in Unterfranken und die Edelherren von Dürne im Odenwald. Doch trotz dieser Gönner war Wolfram wohl Zeit seines Lebens nicht mit Reichtümern gesegnet und er schreibt im „Parzival":
„...dort, wo ich oft vom Pferd steige und wo man „mein Herr" zu mir sagt, nämlich zu Hause, in meinen vier Wänden, da haben selbst die Mäuse keinen Grund zum Feiern. Die müßten sich ihr Futter schon selbst zusammenstehlen...".
[‘Parzival’ 184.27-185.8]

Aus Wolframs Selbstzeugnissen in „Parzival" und „Willehalm" geht hervor, daß er verheiratet war, Bruder und Schwester und zumindest eine Tochter hatte.
Auch seine Zugehörigkeit zum Ritterstand bezeugt er selbst am Ende des 2. Buches von Parzival, „Dem Rittertum gehöre ich an durch Geburt und Erziehung".

Wolfram war arm und er besaß nicht die geistliche Schulbildung seiner Kollegen, aber er war ein stolzer und genialer Autodidakt, der über sich selbst schrieb:
„Was in den Büchern geschrieben steht, davon habe ich wenig gelernt. Meine Bildung besteht einzig und allein in meiner künstlerischen Begabung; ihr verdanke ich mein Können".
[‘Willehalm’ 2.19-22]

Dabei war er stets wißbegierig und machte alles, was er an Kenntnissen erwarb, seiner Dichtung dienstbar: astrologisches Wissen, Beschreibungen über die Heilkräfte von Edelsteinen (er war quasi Zeitgenosse von Hildegard von Bingen, 1098-1179), Berichte über zeitgenössische deutsche und französische Literatur und Volkssagen ebenso wie Kreuzzugsberichte.

Ob Wolfram von Eschenbach an einem Kreuzzug teilgenommen hat, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Wenn, dann höchstwahrscheinlich am 3. Kreuzzug (1189-92) unter Friedrich I. Barbarossa bzw. Richard Löwenherz, als das Heer der Franken sich in Regensburg sammelte.
Mit Sicherheit aber hatte Wolfram Schilderungen aus erster Hand (der Landgraf Ludwig von Thüringen hatte am 3. Kreuzzug teilgenommen), deren Eindrücke und Wirkung sich vor allem in seinem Epos „Willehalm" niederschlagen.

Auch wann Wolfram starb, wissen wir nicht. Aber ich kann mir vorstellen, daß es ein karger Leichenschmaus war.

Wolframs Werke

„Parzival", Wolframs Erstlingswerk entstand ca. zwischen 1200 und 1210.  Als seinen Dienstherren erwähnt er im Text (184.4) den Grafen von Wertheim.

„Titurel", ein unvollendetes strophisches Epos, das inhaltlich Motive aus dem Parzival aufgreift und weiter ausführt. Im Titurel gibt es einen Hinweis auf Hermann von Thüringen (eingeschoben zwischen der 82. und 83. Strophe).

„Willehalm", entstand ca. zwischen 1210 und 1220. Die Vorlage für dieses Epos erhielt Wolfram laut eigener Aussage im Vorwort von seinem Gönner, Landgraf Hermann von Thüringen.

Desweiteren sind von Wolfram 8 Lieder überliefert, die in keinem gesicherten chronologischen Zusammenhang mit seinen Epen stehen, man nimmt jedoch an, daß sie vor dem Parzival entstanden. Drei Lieder sind Minnelieder und fünf sogenannte Tagelieder, d.h. sie handeln von der Trennung der Liebenden bei Tagesanbruch.

Ursprünge des Ritterwesens

Wer in Rittern nur gepanzerte Kampfmaschinen aus der Vergangenheit sieht, liegt so falsch wie der, für den ein Kreuz nur ein römisches Marterinstrument ist.
Ritter waren immer mehr als nur Krieger, mehr als nur Kämpfer auf Pferden.
Um dem Ritter, Minnesänger und Humanisten Wolfram von Eschenbach nahezukommen, ist es sicher notwendig, einen Blick auf die Entwicklung dieses Standes, der in Wirklichkeit auch ein nationenüberspannender Bund war, zu werfen.

Nach der germanischen Niederlage in der Schlacht von Xerez de la Frontera im Jahr 711 erkannte Karl Martell die Ursache: die Unterlegenheit eines auf Heerbann, also Aushebung nach Bedarf, beruhenden Germanenheeres gegenüber einem geschulten, geübten, aus Berufskriegern bestehenden arabischen Reiterheeres.
Da er wußte, daß die Reiterwoge nicht in Spanien innehalten würde, sondern weiterziehen nach Norden, gründete er ein europäisch-fränkisches Äquivalent - der    feindliche und dennoch tiefbrüderliche Zwilling des östlichen Rittertums war geboren.
Dazu mußten aber erst Voraussetzungen geschaffen werden, um in einer vorwiegend auf Naturalienwirtschaft gegründeten Gesellschaft das Entstehen und Bestehen von Berufskriegern zu ermöglichen.

Das führte zur „Erfindung" des Lehenswesens,  d.h. damit der Ritter sich ganz dem Kriegsdienst widmen konnte,  wurde ihm Land mitsamt es bestellenden Leuten „geliehen".  Die neuen Reiterkrieger waren unmittelbar ihren Lehnsherren unterstellt, so wie Wolfram von Eschenbach den Grafen von Wertheim, und zur Gefolgschaft verpflichtet.
Das neue Lehensrecht wurde auch von Martells Nachfolgern ausgebaut und nach und nach löste es das, bei der Staatsverwaltung von den Römern übernommene Amtsrecht ab.
In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts ist das Heilige Römische Reich ein voll ausgebildetes Lehensreich mit König und Kaiser an der Spitze.

Vom Reiterkrieger zum Rittertum

Doch wie hat sich aus dieser neuen Kriegerkaste eine Lebenshaltung entwickelt?
Die meisten Ritter waren keineswegs reich, wie auch das Beispiel Wolfram von Eschenbachs zeigt. Trotzdem gelang es der neuen Schicht des Ministerialadels, d.h. Dienstadels, ein Bewußtsein zu entwickeln, das bis heute nachhallt.
Rudolf Fahrner machte auf der Suche nach den äußeren Umständen einige interessante Ausführungen: „Zunächst findet durch das Besteigen des Pferderückens eine wirkliche räumliche Erhöhung statt, die ein Gefühl des Erhobenseins, ja der Entrückung aus der üblichen Lebensart erzeugt. [..] Es kommt weiter hinzu, daß man durch die in der Vereinigung mit dem Pferde gewonnene Schnelligkeit und Wucht der Bewegung gleichsam in eine andere Daseinsart gerückt wurde und sich als neues Doppelwesen empfinden konnte."
Die Dichtung des Mittelalters ist voll von Zeugnissen dieser Erhöhung und auch der tiefen Gemeinschaft und Verbundenheit von Roß und Reiter.
Um einem solchen Menschen ebenbürtig zu sein, mußte man schon selbst auch auf einem Pferd sitzen.

Das Lehenswesen gründet sich auf ein komplexes Geflecht von gegenseitigen Treue- und Schutzverpflichtungen. Der Berufung zum Ritter ging eine Auswahl voraus und der Dienst basiert auf Freiwilligkeit. Zur germanischen Sippenpflicht kam nun eine neuartige Form der Gefolgschaft, die auf Überzeugung, Sympathien und Idealen beruhte.
Der neue „Männerbund" vereinnahmte sehr schnell für sich heroische Legenden aus der Vorzeit und der Antike. Es entstanden Erziehungsgemeinschaften, in denen junge Männer als Knappen sowohl im Waffenhandwerk, als auch in den ritterlichen Tugenden unterwiesen wurden. Dies war eine Ausbildung zu einem Lebensgefühl, das weit über das Kriegerische hinauswies.
Das Rittersein wurde in Epen und Liedern als etwas erstrebenswertes dargestellt, als tugendhaft, gottgefällig und vorbildlich. Der neue Stand hatte ein „Image" im Reich, wie es besser nicht sein konnte.

Die Entwicklung einer ritterlichen Ethik

Die Dichter sangen das hohe Lied der Ritterlichkeit und die Ritter selbst maßen sich an diesem Anspruch. Es mag in unserer heutigen Zeit mit ihrem Mangel an inneren Bildern schwer nachzuvollziehen sein, was in dieser Zeit, die reich an diesen Bildern war, in den Menschen vorging.
Sicher waren die Ritter am Anfang nur Reiterkrieger. Doch je länger die neue Kaste existierte, desto mehr verfeinerte sie ihre Übungen, Regeln, Gebräuche, Sitten und auch das Bewußtsein ihrer selbst.
Eine große Rolle spielten religiöse und magische Mächte, Symbole und Embleme,
Gottesglaube und Zaubertum gleichermaßen.
Der Ritter mußte sich seiner „Queste" stellen, seiner ganz persönlichen Herausforderung. Er mußte Prüfungen bestehen und sich vielfältig bewähren. Dabei waren die Erfüllung der ritterlichen Tugenden mindestens so wichtig wie der „praktische Erfolg": Kameradschaft und Freundschaft, Stärke und Tapferkeit, Treue und Mut.
Dazu kam etwas ganz Entscheidendes: die Achtung vor dem Gegner, dem man im ritterlichen Ehrencodex verbunden war.
Dies drückte sich in der Praxis durch das Einhalten festgelegter Rituale aus: der Kampf konnte nur unter Rittern, sprich gleich gut ausgebildeten und ausgerüsteten Kämpfern stattfinden; kein Kampf fand ohne vorherige Ansage statt; Ausführung des Kampfes nur mit gleichen Waffen; verlor ein Ritter das Pferd, so mußte auch der Gegner vom Pferd steigen. Dazukam, daß Gefangene ehrenvoll behandelt wurden und eine Schmähung des Unterlegenen tabu war.
Die Ehre des Gegners war so wichtig wie die eigene,  „Wer Ehre gibt dessen ist die Ehre". Und Wolfram schreibt im ‘Willehalm’ nach einer großen Schlacht: „Bezeichnet sie richtig mit ihren Namen und ihren Ländern. Man soll sie behutsam von der Erde aufheben, damit sie nicht zur Beute werden einem Wolf, einem Raben."
[‘Willehalm’ 462.18-23]

Um die Festschreibung und die Verbreitung ritterlicher Prinzipien haben sich vor allem zwei Frauen verdient gemacht: Eleonore (eigentlich Alianor) von Aquitanien und ihre Tochter Marie. Alianor wurde als Enkelin des ersten Troubadours Wilhelm IX. von Aquitanien 1120 oder 1122 geboren, war Gemahlin König Ludwigs VII. von Frankreich und später von Heinrich II. von England, mit dem sie u.a. die Söhne Richard Löwenherz und Johann hatte. Sie starb 1204.
Zusammen mit ihrer Tochter Marie gründete sie die berühmte Minneschule von Poitiers, und Alianor war es, die Christian des Troyes, dem ersten Parzival-Dichter, den Stoff zu seinem Epos „Der Karrenritter" gab.
Alianor hatte große Wirkung auf die Ritterjugend, den sie gab ihr Identität und Ideale. Ihre hohen Werte verbreiteten sich schnell in West und Ost, fanden Anklang bei den Fürsten und ihrem ritterlichen Gefolge. Der Unterschied zu den bis dato vorrangigen christlichen Idealen war eine neue, innere Haltung. Nicht die Vorstellung von göttlichem Gebot und Verbot, von Sünde und Vergebung spielte die Hauptrolle, sondern die Selbstachtung und Selbsterhöhung des Menschen durch eine freiwillig auferlegte Pflicht.

Ritter zwischen Okzident und Orient

Eine kriegerische Begegnung zwischen West und Ost hatte die Gründung der westlichen Ritterschaft ausgelöst. In der Folgezeit kam es zu vielfältigen Aufeinander-treffen, die aber nicht nur militärischen Charakter besaßen.
Gerade die Begegnungen in Folge der Kreuzzüge und der im Heiligen Land entstandenen Kreuzfahrerstaaten Jerusalem, Tripolis, Antiochia und Edessa, wandelte das Bild vom „bösartigen, unkultivierten Heiden". Es erwies sich als kirchlich-dogmatische Schimäre, ein künstlich aufgebautes Schreckgespenst.
Die Feudalherren des Abendlandes sahen nun in ihren morgenländischen Standes-genossen kultivierte Menschen, deren Lebenshaltung und -entfaltung eher vorbildlich, denn verabscheuenswürdig erschien. Es entstand das Bild vom „edlen Heiden", die Zusammengehörigkeit auf der Ebene der herrschenden Klasse und das Streben nach einer toleranten Haltung in religiöser Hinsicht.
Eine besonders eindringliche Begegnung von Rittern aus West und Ost ist das Aufeinandertreffen von Richard Löwenherz und Sultan Saladin 1191.
Beide erkannten sich als Angehörige des gleichen Standes, sahen sich als ebenbürtig und verwandt an. Der Umgang der beiden miteinander hatte schon Zeitzeugen in Erstaunen oder Befremden, aber auch Bewunderung versetzt, je nach Standpunkt. Für uns heute klingen diese Begebenheiten oft mehr nach einem Märchen aus 1001 Nacht, denn nach historisch haltbaren Überlieferungen.
Dennoch sind es reale Geschehnisse und ihr Ablauf und Gehalt läßt sich nur aus dem Rittertum der beiden Beteiligten erklären.
So war der junge Saladin im Jahre 1174 vor Alexandria von Humfried von Toron, einem Templermeister, zum Ritter geschlagen worden. Richard Löwenherz wiederum schlug einen Bruder Saladins, al-Ãdil zum Ritter.
Ein Jahr lang standen sich Richard und Saladin 1191 als Gegner gegenüber. Dabei kam es zu mehreren Zeugnissen ritterlicher Gesinnung. Als Richard erkrankt war, sandte Saladin nicht nur seinen Arzt, sondern auch frisches Obst, Trank und Eis vom Berge Hermon. Als in der Schlacht von Jaffa Richards Roß fiel, schickte ihm Saladin mitten in der Schlacht zwei erlesene Pferde.
Die Krönung dieser Begegnungen sollte die Gründung eines neuen Reiches sein, in dem beide Religionen gleichberechtigt nebeneinander existieren sollten. Die beiden ritterlichen Kontrahenten wollten diesen Pakt durch die Heirat  von Saladins Bruder al-Ãdil mit Richards Schwester Johanna besiegeln. Damit sollte die freie Religionsausübung und der Zugang zur Heiligen Stadt ebenso garantiert werden wie die Sicherheit der Pilgerwege. Diese Verbindung kam aber durch massive Einflußnahme von seiten des Papstes nicht zustande, der es nicht zulassen konnte und wollte, daß im Heiligen Land ein die Religionen versöhnendes Ritterreich entstand. Richards späterer Versuch, statt seiner Schwester, die junge Tochter seines Bruders Geofrey, Konstanze von der Bretagne, zu verehelichen, scheiterte an der inzwischen zugespitzten Lage.
In Lessings Nathan können wir einen Teil dieser Versöhnungspolitik, die ja von Saladin getragen wurde, erspüren und erahnen.

Auch bei Wolfram von Eschenbach finden wir mannigfaltige Begegnungen von West und Ost. Der ganze ‘Willehalm" ist ein solches Aufeinandertreffen, das aber unter dem gleichen unglücklichen Stern stand wie die Kreuzzüge.

Die Einflüsse der fränkischen Kreuzfahrerstaaten, der Austausch zwischen Ost und West, ist in Wolframs Werk unverkennbar. So häufen sich in seinen Epen die orientalischen geographischen Namen ebenso wie die Eigennamen arabischer Herrscher. Er verwendet für die Planeten nicht die römischen, sondern die arabischen Bezeichnungen, alle drei Epen Wolframs, Parzival, Titurel und Willehalm, haben Handlungsstränge, die in den Orient führen.

Der ‘Parzival’ beginnt mit Rittertaten im Orient. Gahmuret, Königssohn aus Anjou in Frankreich, befreit die orientalische Königin Belakane und wird ihr Gemahl.
Er verläßt sie aus nicht genannten Gründen und gewinnt als neue Frau Herzeloyde, die Schwester des Gralskönigs, die ihm den Sohn Parzival schenkt.
Die verlassene Königin nennt ihren „Mischlingssohn" Feirefiz, den „bunten Sohn". Dieser Heide wird später als gleichwertiger Gegner auf seinen Halbbruder Parzival treffen und ihn besiegen. Als Parzival zum Gralskönig berufen wird, darf er nur einen Menschen auf die Gralsburg mitnehmen. Er wählt seinen heidnischen Bruder Feirefiz.
Wolfram von Eschenbach sieht also den heidnischen Ritterbruder als dem neuen Gralskönig gleichwertig und ebenbürtig an. Sie reiten gemeinsam zur Gralsburg, um die neue Herrschaft anzutreten.
Daß Wolfram dann Feirefiz auf der Gralsburg taufen läßt, ist wohl eher als Zugeständnis an die christliche Leser- und Zuhörerschaft, aber vor allem an den herrschenden Klerus, zu sehen. Aber auch trotz dieses Zugeständnisses erntete er harsche Kritik. Etliche seiner Dichterkollegen warfen Wolfram einen allzu freien Umgang mit der Vorlage, angeblich von Christian des Troyes, vor, während Wolfram selbst im Werk behauptet, seine Vorlage ginge auf Flegetanis zurück, einen heidnischen Naturforscher, der von Salomon selbst abstammte. Diese Quelle sei eine alte arabische Handschrift, die man in Toledo gefunden habe.
Die Literaturwissenschaft tut sich naturgemäß schwer mit dieser Aussage, vor allem weil Wolfram des öfteren, gerade bei seinen Selbstzeugnissen, zur Ironie neigt.

Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit

Zu Wolfram von Eschenbachs Lebenszeit wirkten zum einen die hohen Ideale der Schule von Poitiers und die Berichte des Miteinanderumgehens aus dem Heiligen Land, zum anderen war das Reich selbst in einer desolaten Situation.
Der berühmteste deutsche Lyriker des Mittelalters, Walter von der Vogelweide schrieb über die Zustände dieser Zeit:
„Treulosigkeit lauert im Hinterhalt, Gewalttätigkeit treibt Straßenraub, Frieden und Recht sind todwund."
Es ist eine Zeit, die von tiefen politischen und religiösen Krisen erschüttert wird. Das blutige Fehdewesen und eine feudale Anarchie führen zu Rechtsunsicherheit und Faustrecht. Nach der relativ stabilen Regierungszeit (1152-90) von Friedrich I. Barbarossa verfiel die Lage unter der Herrschaft  Heinrichs VI., der eine abenteuerliche Eroberungspolitik im Mittelmeerraum betrieb. Es war die Zeit der staufisch-welfischen Rivalitätskämpfe, die seit 1198 im Gegenkönigtum Philipps von Schwaben und Ottos IV. ihren Ausdruck fanden. Als 1214 der Staufer Friedrich II. mit Unterstützung der römischen Kurie die Herrschergewalt in Deutschland zurückgewinnt, ist nichts mehr zu retten. Vor allem weil er sich auf die Errichtung eines vorbildlichen Königreichs in Sizilien und die Eroberung Italiens konzentriert.
Die Saat zur deutschen Kleinstaaterei ist gelegt.
Die Ritter werden zum Spielball der Mächtigen, die nicht nach Ethos fragen, sondern nach gewonnenen Schlachten. Der Ritter wird zum Handlanger der Politik, seine Ideale der Effizienz geopfert.
„Da wurde solche Ritterschaft getan, will man sie recht benennen, sie kann fürwahr nur Mord heißen".
[‘Willehalm’ 10.18-20]
Das Leid, das im Rittersein steckt, wird von Wolfram wiederholt thematisiert:
„Ritter spielen riskant./Das wißt auch ihr./Wenn die Würfel gefallen sind,/Das Blatt gelegt ist,/Sind auch die Ritter/Gefallen/Gelegt"
[‘Parzival’ 248.10-13, ‘Parzival’ 289.24,  ‘Parzival’ 115.19-20, ‘Willehalm’  415.16-17, ‘Willehalm’  427.26-27]
„Das Meer trägt nicht so viele Wogen, wie Menschen um Land und Burgen, um Ruhm und eine Frau erschlagen wurden."
[‘Willehalm’ 8.12.-14]

Um so mehr wächst die Sehnsucht, die edlen Tugenden der Ritterschaft zurückzugewinnen. Man muß sich vor Augen halten, daß Wolfram Stoffe wählte, die von seiner Zeit aus gesehen weit  zurücklagen. Der ‘Willehalm’ war von ihm zeitlich so weit entfernt wie wir vom Dreißigjährigen Krieg, der ‘Parzival’ gar so weit wie wir von Wolfram.
Aber auch Lessing wählte für seinen Nathan ja nicht seine eigene Gegenwart, sondern das Zeitalter Wolframs.

Wolframs Werke sind auch ein Gegenentwurf zur Realität seiner Zeit, die Beschreibung eines Ideals und die Sehnsucht nach einer besseren, menschlicheren Welt.

Die Suche als Weg

Parzival wächst einsam im tiefen Wald auf, der einzige Mensch, den er kennt, ist seine Mutter Herzeloyde. Doch dann sieht er eines Tages strahlende Ritter im Wald und ist nur noch von dem einen Wunsch beseelt, auch ein Ritter zu werden.
Er ist ein Narr, ein Suchender, der etwas erahnt, aber nichts weiß.
Seine Begegnung mit Sigune läßt erkennen, daß er ein mitfühlendes Wesen ist, dennoch lädt er schwere Schuld auf sich: seiner Mutter bricht ob seines Weggangs das Herz, er stellt eine Frau bloß und er erschlägt in seinem Eifer, ein Ritter zu werden gar einen Verwandten. Erst am Hofe Gurnemanz erhält er eine höfische Erziehung und wird in ritterlicher Waffenführung unterwiesen. Nach dieser Ausbildung ist er ein Mann und gewinnt die Zuneigung einer Frau, Pelrapeire. Dann trägt er die Schuld ab, die er gegenüber Sigune hatte und wird zum Artusritter.
Doch ein Artusritter bedeutet noch nicht, den Gral erlangen zu können. Die formale höfische Bildung heißt noch nicht, Herzensbildung zu besitzen. Deshalb versagt Parzival bei seinem ersten Besuch auf der Gralsburg. Nun folgt eine lange Zeit des Suchens, der Bewährung und des Reifens. Erst danach ist der glorreiche Artusritter soweit Persönlichkeit, erneut dem Gral zu begegnen. Nicht indem er einen großen Kampf gewinnt oder ein Ungeheuer erschlägt, wird er zum Gralskönig, sondern in dem er eine Mitleidsfrage stellt: „Oheim, was leidet ihr"
[‘Parzival’ 795.29]

Damit ist Parzival endgültig als mitfühlendes, mitleidendes Wesen qualifiziert, der neue Gralskönig zu werden.

Der Toleranzgedanke bei Wolfram

Wolframs zweites großes Epos, ‘Willehalm’, ist ein beispielloses Plädoyer gegen die vorherrschende Kreuzzugsideologie und für die Toleranz.
Er beginnt sein Epos mit einem Gebet, das jedoch nicht allgemeiner Natur ist, sondern bereits die Handlung aufgreift und eine Perspektive zu ihr aufbaut.
Im Gegensatz zu seinen Dichterkollegen stellt Wolfram nicht nur einen Helden in das Zentrum seines Werkes, sondern stellt diesem gleichberechtigt eine Frau zur Seite. Diese ist die Gattin Willehalms, die getaufte Heidin Gyburg.
Wie schon im ‘Parzival’ arbeitet Wolfram auch im ‘Willehalm’ mit einer Paarung von Christ und Heide bzw. Heidin, die zusammen ein Ganzes ergeben.
Zum Verständnis der Wolframschen Intention hier kurz die Grundkonstellation des Epos:
‘Willehalm’ knüpft an die historischen Kämpfe der Franken und Sarazenen im 8. und 9. Jahrhundert und hier besonders an das ‘Rolandslied’ an.
Wolfram gelingt es, den Konflikt zwischen Christen und Heiden zu personifizieren.
Die Gattin des Markgrafen Willehalm, Gyburg, war vor ihrer Taufe mit dem Heiden Tibalt verheiratet, mit dem sie auch Kinder hatte. Nun steht ihr Ex-Ehemann im Gefolge des Heidenkönigs Terramer, der ihr Vater ist, vor den Toren von Alischanz (Les Alychamps in Arles). Terramer will nicht weniger als die Herrschaft über das Heilige Römische Reich erlangen und nach seinem Sieg hier weiterziehen gegen Aachen, um dort den letzten großen Sieg über die fränkischen Christen zu erlangen.

Gyburg ist auch nach Flucht und Taufe ihrem ehemaligen Mann und ihren Kindern in Achtung und Respekt verbunden und steht so gefühlsmäßig zwischen den Fronten: wer immer siegt, sie kann nur verlieren. An Gyburgs Konflikten und Leiden wird deutlich, wie der Erzähler Wolfram die Heiden sieht: als gute Ritter, die für den Glauben kämpfen, den sie für wahr halten, die Respekt vor dem Feind haben und sich der Minne ebenso verpflichtet fühlen wie ihrem Lehnsherren.

So wagt es Wolfram, einer Frau und getauften Heidin, ein flammende Rede vor dem Thronrat in den Mund zu legen, die nicht nur Zeugnis für Toleranz ist, sondern darüber hinaus eintritt für das Geltenlassen des Anderen für sich selbst, die in der Verwandtschaft aller Menschen begründet ist.
So stand Gyburg auf und sprach zum Rat:
„Wenn Gott jetzt auf Alischanz Euch den Sieg gibt über die Heiden, gebt Acht, daß ihr dabei nicht in Verdammnis fallt. Nehmt an den Rat einer elenden Frau: Gebt Schonung den andern, die Gott auch erschuf mit eigener Hand.
Der erste Mensch, den Gott schuf, war ein Heide. Elia und Henoch sind gerettet, obwohl sie Heiden waren. Noah in der Arche - ein Heide.
Auch Hiob, ein Heide, und Gott verstieß ihn nicht. Denkt an die drei Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar - Heiden, aber nicht zur Verdammnis bestimmt. Gott nahm an der Mutterbrust die ersten Gaben von ihnen. Die Heiden sind nicht alle zur Verdammnis bestimmt. Alle Mütter, die Kinder zur Welt brachten - ihre Neugeborenen waren Heiden. Getaufte Frauen tragen in ihrem Leib einen Heiden, wenn auch das Kind von der Taufe der Mutter umgeben ist.
Die Taufe der Juden ist besonders, mit einem Schnitt: Wir alle waren einmal Heiden. Den Erlösten schmerzt es besonders, wenn der Vater seine Kinder zur Verdammnis bestimmt hätte.
Der Allbarmherzige kann sich ihrer Erbarmen.
Was Euch die Heiden angetan haben: ihr sollt es ihnen zugute halten, daß Gott selbst denen verziehen hat, die ihn getötet haben. Wenn Euch Gott dort auf dem Schlachtfeld den Sieg schenkt, übt Erbarmen im Kampf."
[Willehalm’ 306.1-309.9]

Doch Wolfram versteckt sich nicht hinter seiner Epenfigur, sondern legt selbst Zeugnis von seiner Meinung ab, in dem er nach der großen Schlacht als Wolfram von Eschenbach kommentiert:
„Die Zungen vieler Sprachen hatten dort viel Klagenswertes zu beklagen und Zuhause Unglück zu berichten.
Ist es Sünde, wenn man sie wie Vieh erschlägt,  die nie von der Taufe gehört haben?
Ich sage euch, es ist große Sünde. Es ist alles Gottes Schöpfung, alle zweiundsiebzig Völker, die ER erhält."
[‘Willehalm’ 450.12-20]
 
Wolfram erhebt damit inmitten der Christenwelt der Kreuzzugszeit seine Stimme für die Heiden. Damit hat der Ritter Wolfram dem Dichter Wolfram etwas gegeben, was ihn vor allen anderen auszeichnet: Mut.
Am Ende läßt Wolfram den Markgrafen Willehalm den König Matribleiz und die gefallenen Heidenkönige ehrenvoll behandeln und trauert mit seiner Frau Gyburg um die Toten. Es ist eine versöhnende Geste der Liebe, die ihn so handeln läßt. Es ist diese Kraft der Liebe, die über den Tod hinaus reicht.

Der ‘Willehalm’ Wolfram von Eschenbachs ist ein Dokument großer Menschlichkeit und ein Aufruf für ein Leben im friedlichen Miteinander.

Gral und Gralsgesellschaft

Das alles überstrahlende Motiv in Wolframs ‘Parzival’ ist der Gral. Doch warum wurde dieses Motiv zur Zeit Wolframs und auch danach so begierig und begeistert aufgenommen? Weil sich hier den Gläubigen ein Gottbegegnen ohne Kirche bot.
Dazu auch hier der geschichtliche Zusammenhang. In der Zeit, als Wolframs ‘Parzival’ erstmals publiziert wurde, herrschte in Rom Papst Innozenz III. (Amtszeit 1198-1216), der sich vor allem dadurch auszeichnete, daß er nach Weltherrschaft strebte. Gegen die zunehmende Verweltlichung der Kirche setzten mehrere Gegen-bewegungen ein, die aus dem Widerspruch zwischen Kirchenlehre und Realität entsprangen. Es entstand eine starke Laienbewegung, die inspiriert von den urchristlichen Idealen eine Gottbeziehung ohne Vermittler wie Kirche und Priestertum wollte und nach einem unmittelbaren Weg zu Gott und seinen Lehren suchte.
Ebenfalls zu dieser Zeit entstanden für die Kirche gefährliche religiöse Sekten, wie die Katharer und die Waldenser. Diese schufen neue Riten und stellten die Dogmen der Amtskirche in Frage und sagten sich schließlich von ihr los.
Dazukam, daß der Feudaladel durch eigenes Erleben das Dogma vom gefährlichen Heiden und der Notwendigkeit seiner Vernichtung nicht  mehr akzeptierte.
In eine solche Zeit also stellte Wolfram von Eschenbach sein Gralsepos, in dem kein einziger Priester auftritt und in dem der sündige Parzival vom Einsiedler Trevizent die Absolution erhält, obwohl dieser nie zum Priester geweiht worden war.
Und es war auch kein Mann der Kirche, der auserkoren war, das heiligste Gefäß der Christenheit zu finden und Gralskönig zu werden, sondern ein Ritter. Ein Ritter, der Schuld auf sich geladen hatte, der der Minne frönte und Weib und Kinder besaß und es auch noch wagt, als auserwählten Begleiter seinen heidnischen Ritterbruder Feirefiz auf die Gralsburg mitzunehmen.

Mit der Schaffung der Gralsritter unterscheidet sich Wolfram von den Ritterepen seiner Zeit. Im Gegensatz zur üblichen Dichtung im Sagenkreis der Artusritter, begnügt sich Wolfram nicht mit der Aventüre, dem Bestehen von Abenteuern und dem Totschlagen von Feinden.
Der zeitübliche Handlungsverlauf von Ritterepen führte den Helden über Prüfungen und Kämpfe schließlich an den Hof von König Artus, wo er dann als neuer Ritter der Tafelrunde Platz nehmen durfte. Ein Artusritter zu sein war das höchste Ziel.
Doch dort, wo die Epen seiner Zeit gemeinhin enden, beginnt Wolframs große Vision.
Die Suche nach dem Gral ist bei ihm mehr als die Suche nach einer Reliquie.
Sie ist die Grundlage einer neuen Ritterschaft,  die weit über Artus hinaus weist und die Verantwortung für die Gesellschaft übernimmt. Es ist die Idee eines starken Kaiser- und Königtums, das sich selbst durch die Sicherung von Gerechtigkeit und Frieden rechtfertigt. Parzival gründete den Gralsorden, dessen Mitglieder in die Welt hinausziehen, um Gerechtigkeit herzustellen, für die Schwachen einzutreten und die Freiheit zu verteidigen.
Nun ist nicht mehr Pflicht gegenüber dem Lehnsherren, Abenteuerlust oder der Minnedienst für eine Dame Motivation für die Ritter, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe, die sie direkt von Gott, ohne Vermittlung der Kirche, durch den Gral erhalten. Bemerkenswert ist dabei, daß auch die weiblichen Mitglieder der Gralsgemeinschaft eine Rolle spielen, in dem sie z.B. als Ehefrauen weltlicher Herrscher dafür sorgen, daß der Einfluß des Gralsordens wächst und ihm aus diesen Verbindungen ritterlicher Nachwuchs zukommt.
Dabei sind nicht Askese und Weltverneinung die Grundlage der Gottesbeziehung, sondern ein sinnvolles, konstruktives, gesellschaftsbezogenes Wirken.

Wolfram gibt mit seinem Gralsorden eine Antwort auf die Frage nach der Funktion des Adels in der Gesellschaft. Seine Elite sind die Ritter von Abendland und Morgenland, die sich auf der Grundlage gleicher Lebenshaltung, gleicher Kultur und gleicher Ideologie bewegen.
Die Gralsritter bewahren nicht nur die Geheimnisse des Grals, sondern sind auch der Welt verpflichtet. Wann immer ein weltlicher Herrscher ein zerrüttetes Reich hinterläßt, werden die Ritter ausgesandt, den Frieden wieder herzustellen. Wann immer Unrecht geschieht, ziehen sie aus, um es zu bekämpfen.
Wolfram ist es gelungen, eine humanistische Utopie zu schaffen, die nicht nur für seine  Zeit eine Lösung aus der politischen und religiösen Krise bot. Seine Synthese von Okzident und Orient, sein vehementer Eintritt für Toleranz und gegenseitige Achtung und sein Entwurf einer Verantwortung für die Gesellschaft weisen bis in unsere Zeit.


  © Gerd Scherm
Colmberg-Binzwangen, Februar 1998

Bibliographie

Fahrner, Rudolf: „West-östliches Rittertum", Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz, 1994
Hallam, Elizabeth:  „The Plantagenet Chronicles", Guild Publishing London, 1986
Kress von Kressenstein, Johann Wilhelm I.: „Itinerarium Germaniae, Galliae, Belgij, Angliae et Bohemiae, 1608,  Germ.Nat.Museum Hs 17613 2°
Runciman, Steven: „Geschichte der Kreuzzüge", London, 1957
Scherm, Gerd: „Wolfram", Lyrik, mit farbigen Holzschnitten v. Wilhelm Schramm, Freipresse, Bludenz, 1997
Wolfram von Eschenbach: „Parzival",  2 Bde., Reclam, Stuttgart, 1996
Wolfram von Eschenbach: „Willehalm", Max Niemeyer Verlag, Tübingen, 1994
Wolfram von Eschenbach: „Willehalm", Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a.M., 1991
Wolfram von Eschenbach: „Titurel", Übersetzung v. Karl Simrock, bearbeitet v. Wolfgang Mohr, Privatdruck, undatiert,  vermutlich 1995
 
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