Über einen Satz von Jean Paul

"Ich bin kein Theolog mer; ich treibe keine einzige Wissenschaft ex professo, und alle nur insofern als sie mich ergözen oder in meine Schriftstellerei einschlagen; und selbst die Philosophie ist mir gleichgültig, seitdem ich an allem zweifle; aber mein Herz ist mir hier so vol! so vol! daß ich schweige."

(aus: Brief an Pfarrer Erhard Friedrich Vogel, Mai 1783, zitiert nach hist.-krit. Ausgabe hg. von Eduard Berend, 1951, Band 1, S. 66)

Der gerade zwanzigjährige Jean Paul hat die Grenze des Sag/Schreibbaren erreicht, kaum daß er mit der Schriftstellerei begann. Zuviel war gehortet in den Exzerpt-Kästchen und -Heftchen, gespeichert in seinem bis dato schier unstillbaren Gehirn. Vor allem aber das Herz des Weltverstehenssehnsüchtigen war übervoll.
Vielleicht litt Jean Paul an dem, was wir heute "Information Overkill" nennen. Seine Kapazität erschöpft, die Verarbeitungssysteme gelähmt, von Zweifeln geplagt, steht er vor der bisher wichtigsten Entscheidung seines Lebens.
Der Überfülle nachgeben, die Zettel und Notizen ignorieren und ein wie auch immer geartetes, aber hoffentlich beschauliches Dasein führen, respektive resignieren, aufgeben gegenüber einer Welt und ihrer Fülle/Vielfalt/Einfalt oder hinausgehen, aus sich, aus der Begrenzung seines physischen Seins in seine psychische Unendlichkeit.
Er selbst hat die Lösung angedeutet, die Dinge sollen ihn "ergözen" oder in seine "Schriftstellerei einschlagen". Deshalb hat er das Schweigen nicht zum Prinzip erhoben wie Marcel Duchamp, er ist nicht hinfortgeflogen wie sein Luftschiffer Giannozzo in "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch", sondern ist wie der Biograph dort, zurückgekehrt, um selbst Biograph zu sein.

Mir geht es hier nicht darum, was diese Entscheidung Jean Pauls bewirkt hat, sondern daß er überhaupt vor dieser Entscheidung stand.
Für mich markiert Jean Paul durch seine Zweifel, sein "Vol-sein", sein Schweigen, das er dennoch bricht, den Übergang zur Moderne. Goethe als Exponent der Epoche war ein Fossil - allumfassend ge- und eingebildet, verkörpert er mehr den klassisch-antiken "Saurus universalis", den es in Wirklichkeit schon zu seinen Lebzeiten nicht mehr gab, nicht mehr geben konnte. Jean Paul erkannte visionär, daß diese Zeit zu Ende war, daß der einzelne überhaupt nicht mehr in der Lage ist, alles zu überblicken, zu verstehen, zu formulieren.
Die gemeinsame Wirklichkeit war dahin, das universale Werk nicht mehr möglich. Bereits vor der Drucklegung des "Faust" brach das Zeitalter des Fragments an. Der große Spiegel war zertrümmert und die einzelnen Facetten spiegelten nun mehr oder weniger große Bruchstücke der sogenannten Wirklichkeit.

Das beschreib- sprich formulierbare Universum zerfiel in immer kleinere Segmente, wobei es gleichzeitig ungeheuer expandierte. Die Sprache teilte sich in Sprachen - Fachtermini, schichtspezifischer Jargon, Subkultur-Slangs bis in kleine und kleinste Unterbereiche.
Mehr noch als zu Jean Pauls Zeiten können wir den Worten "nicht mehr trauen", wandelt sich ihre Bedeutung nicht nur in der Zeit, sondern von Raum zu Raum. Sie werden von Gruppen okkupiert und subjektiviert, gewinnen neue Bedeutungsdimensionen, die sich nur den Eingeweihten, neudeutsch Insidern, zur Gänze offenbaren. Sagte man vor einigen Jahren von jemanden, "der hat mich gelinkt", so meinte dies "der hat mich betrogen", heute kann es aber auch bedeuten, daß er seine Internetseiten mit den meinen verbunden hat, mir also Gutes tat.

Wenn nun schon einzelne Worte solche Schwierigkeiten bereiten, wie viel schlimmer steht es dann um Sätze oder gar größere Inhalte? "Die sogenannte Wirklichkeit ist das Ergebnis von Kommunikation" sagt der Psychologe Paul Watzlawick und relativiert damit endgültig unsere Realität. Was wie von wem, wenn überhaupt, verstanden wird, ist kein objektiver Prozeß. Der Mensch wird nur erreicht von dem, was ihn "ergözen" kann oder was unmittelbar in ihn "einschlägt".
So hat Jean Paul früh in seinem Leben erkannt, daß nur das ihn Betreffende sein Thema sein kann. Jedes noch so große literarische Werk, und sei es so gewichtig und umfangreich wie "Zettels Traum" von Arno Schmidt, ist nur ein Aufstöhnen, eine Unterbrechung des Schweigens.
Literatur ist das Aufflackern der Glut der Stille.
  
  © Gerd Scherm
Fürth-Ronhof, Januar 1991